Eine agile Reise

Lesedauer: 8 Minuten

Von der evolutionären Transformation zum revolutionären Geschäftsmodell

Agilität dient nicht dem Selbstzweck!

Das Erreichen klar definierter Business-Ziele muss bei einer agilen Transformation im Mittelpunkt stehen. Die Steigerung der wirtschaftlichen Performance gibt hierbei die Richtung vor. Eine Transformation erfordert kleine Schritte, stetiges Reflektieren und Anpassen.
Anhand eines echten Kundenbeispiels teilen wir unsere gebündelten Erfahrungen von der erfolgreichen Umsetzung eines agilen Projekts über die Entwicklung einer virtuellen Organisation hin zu einem revolutionären Geschäftsmodell. Wir berichten über die Ausgangslage und Herausforderungen, über unser Vorgehen und Maßnahmen sowie über die Ergebnisse und Erkenntnisse unserer Reise. Wir möchten so unseren Beitrag zur Entwicklung von lernenden und stabilen Organisationen liefern und Impulse für Transformationen geben. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern einen größtmöglichen Erkenntnisgewinn für ihre Transformationsarbeit.

Die Ausgangssituation

Der Vertriebsbereich eines internationalen Energiekonzerns steht Anfang 2014 vor folgender Situation: Nur eine massive Komplexitätsreduktion in der Prozess- und Systemlandschaft und der Weg zurück zu Standardlösungen kann eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens sicherstellen. Ein ausgeprägtes Silo-Denken sowie große und risikoreiche Releases am Projektende, führen zu einer niedrigen Reaktionsfähigkeit auf sich verändernde Kundenbedürfnisse und Marktanforderungen. Fachbereiche und IT leben sehr formale Prozesse. Ein Mitarbeiter fragt nach dem ersten gemeinsamen Workshop: „Darf ich ab jetzt etwa direkt mit dem Fachbereich reden?“

Das erste agile Projekt im Konzern

Wir initiieren ein Restrukturierungsprojekt für den Privat- und Geschäftskundenbereich und implementieren ein agiles Vorgehen, um die genannten Herausforderungen schrittweise und zügig zu bewältigen. Es ist das erste große agile Projekt im Konzern – natürlich gibt es Unsicherheit. Projektleiter Timo Dietrich (innogy) schützt das Vorhaben und vertraut seinem Team, während nach „außen“ die klassische Konzernwelt bedient wird. Wir pilotieren das agile Vorgehen in einem Teilprojekt und etablieren vier crossfunktionale Scrum Teams bestehend aus Fachbereich, IT und externen Dienstleistern entlang der End-to-end Prozesse. Die Teams arbeiten in 3-Wochen-Sprints und demonstrieren am Ende jedes Sprints vollständig getestete Funktionen. Nach knapp 6 Monaten gibt es einen echten Go-Live: Die Neukundenakquise läuft ab jetzt in der neuen Prozess- und Systemlandschaft.

Die Resonanz im Konzern ist immens

Noch nie gab es so früh nutzbare Ergebnisse in einem derart komplexen Projekt und selten eine so gesunde Zusammenarbeit zwischen Fachbereich und IT. Ein weiteres Highlight innerhalb des Projekts:

Bislang arbeitet das Teilprojekt „Privatkunden“ noch nach klassischer Methode. Die Teams kämpfen nun dafür auch agil arbeiten zu dürfen. Sie wünschen sich den engen Austausch zwischen den Fachbereichen. „Lange Spezifikationen zu schreiben sei ineffizient, wenn man doch direkt miteinander sprechen kann“. Dies ist der Startpunkt der agilen Transformation des gesamten Unternehmensbereiches.

Das agile Projekt skaliert

Um weiterhin eine gemeinsame Ausrichtung und gleichzeitig schlanke Entscheidungsprozesse zu gewährleisten, führen wir gezielte Skalierungsmechanismen ein:
Die eingeführten Mechanismen dienen der Erfüllung eines klar definierten Zwecks, welcher stetig überprüft und bei Bedarf angepasst wird. Kontinuierliches Lernen und Weiterentwicklung sind hierbei tief verankerte Grundsätze unseres Projektvorgehens.
Business Impact: Prozess- und IT Kostenreduktion von 20,4 Mio. EUR/Jahr
Im Dezember 2015 schließen wir das Projekt erfolgreich in Time, in Quality und in Budget ab.
Auszug aus dem IPO Börsenprospekt innogy SE:

[…] In den Fachbereichen und IT konnte eine Kostenreduktion in Höhe von 20,4 Mio. € pro Jahr realisiert werden. Prozesse und Systeme bieten nun neue Möglichkeiten, den Markt individueller und kundenorientierter zu bearbeiten. Ein neues Zusammenarbeitsmodell basierend auf dem Scrum-Framework wurde etabliert und wird nun nach dem erfolgreichen Abschluss im Programm „MOVE Markt Orientierte Vertriebs Entwicklung“ fortgeführt. […]
Neben den gehobenen Potentialen ist eine kulturelle und organisatorische Veränderung deutlich erkennbar. Zum Projektende ist es kaum vorstellbar wieder in die „alte Welt“ zurückzukehren. Zu positiv und erfolgreich sind die Eindrücke. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit, die Kultur, die Leistungsfähigkeit sowie die Effizienz des Projektes muss fortgeführt und die enge Verzahnung zwischen Fachbereichen und IT manifestiert werden. Um Reibungsverluste zu minimieren und die „time to market“ für das Geschäft permanent zu verbessern, unterstützen wir die Gründung einer virtuellen Organisation im Unternehmen, die sich streng an den agilen Prinzipien orientiert (Abb. 1: Virtuelle Organisation).
Abb. 1: Virtuelle Organisation

Die Entstehung einer virtuellen Organisation

13 Scrum Teams arbeiten in 2016 parallel an der kontinuierlichen Weiterentwicklung und dem Betrieb der etablierten Prozess- und Systemlandschaft. Die virtuelle Organisation setzt sich aus 3 verschiedenen Bereichen zusammen. Unsere Vision ist eine „Mitarbeiterorganisation voller Enthusiasten“ zu entwickeln.

Zu schnelles Wachstum führt zu Ineffizienzen

Es ist ein großer Unterschied, ob man in einem Scrum-Projekt auf ein fixes Projektziel hinarbeitet oder Agilität dauerhaft in den Arbeitsalltag integriert. Wir unterschätzen zunächst wie groß die Unsicherheit in Teilen der Organisation wirklich ist.

„Agile Führung muss vorgelebt werden! Der eigentliche Veränderungsprozess kann nur gemeinsam erfolgreich gestaltet werden: Wenn die Mitarbeiter und das Management an einem Strang ziehen!“

Einzelne Mitarbeiter und Führungskräfte fühlen sich in der Situation alleingelassen. Fehlende Nachhaltigkeit in der Etablierung agiler Verhaltens- und Arbeitsweisen führen zu Kommunikationsproblemen, ineffizienten Prozessen und schlussendlich Mehrarbeit. Wir analysieren die Situation gemeinsam mit den operativen Teams und Führungskräften und entwickeln ein Modell, um gesundes Wachstum zu ermöglichen und die nachhaltige Stärke der Organisation zurückzugewinnen.

Modell zur Implementierung einer nachhaltigen Transformation

Ausgehend vom Zweck der Existenz der Organisation, werden eindeutige Leistungsziele des Transformationsvorhabens definiert, gestützt durch strategische Handlungsfelder in der Umsetzung. Ein strategisches Handlungsfeld beschreibt die erwarteten Arbeitsweisen innerhalb der Organisation. Eine Arbeitsweise besteht hierbei aus Fähigkeiten und Verhaltensweisen, sowie aus der geübten Anwendung von Praktiken und Methoden („good practices“) von Individuen, Teams und der gesamten Organisation (Abb. 2).

Die vier Leistungsziele einer agilen Transformation

Der organisationale Reifegrad der Organisation richtet sich an den Leistungszielen in den vier Dimensionen Führung, Mitarbeiter, Kunden und Finanzen aus. Hierbei stehen die Leistungsziele in einer engen Ursache- Wirkungs-Beziehung:

Strategische Handlungsfelder einer agilen Organisation

Die drei strategischen Handlungsfelder ermöglichen das Erreichen der Leistungsziele:

Moderne Führungskultur

Neue Führungsfähigkeiten festigen und Effektivitätsbremsen gezielt lösen, bspw. durch die Etablierung von modernen Führungsansätzen, wie Servant Leadership, die Einführung von Elementen des systemischen Coachings und das Definieren von klaren Leitplanken und Gestaltungsräumen.

Kundenfokus

Kundenfokus und Servicequalität verbessern durch die Anwendung von Lean Werkzeugen, wie bspw. Voice of the Customer (VOC) , Kundenarena zur systematischen Steigerung der Kundenzufriedenheit und Durchführung von Wertstromanalysen zur Prozessoptimierung.

Motivation & Eigenverantwortlichkeit

Unternehmerische Haltung, Kommunikationsfähigkeit und Selbstorganisation fördern, bspw. durch teamspezifisches Coaching zur Förderung der Zusammenarbeit und der aktiven Förderung der persönlichen Entwicklung durch Einführung von klaren Kompetenzmatrizen und Entwicklungspfaden.

Kontinuierliche Verbesserung anstreben

Stetige Reifegradmessungen der Leistungsziele und Handlungsfelder sind Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige Transformation. Die permanente Überprüfung des Ist-Zustandes etabliert einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess nach dem dem Prinzip „Inspect & Adapt“.

Implementierung nachhaltig erfolgreich

Die eingeleiteten Maßnahmen zeigen eine enorme Wirkung. Leistungskennzahlen, wie der generierte Kunden-Nutzen, die Effizienz des Ressourceneinsatzes und die Qualität der ausgelieferten Produkte werden signifikant gesteigert. Die gemessene Mitarbeiterzufriedenheit steigert sich innerhalb von 12 Monaten um mehr als 15%.

Zudem nimmt der organisationale Reifegrad nachweislich zu. Beispielsweise ist es mittlerweile selbstverständlich, dass sich die Teams untereinander in ihrer organisationalen Entwicklung unterstützen. Wir sind stolz auf diesen großen Schritt, hin zu einer lernenden Organisation.
Abb. 2: Agile Transformation

Revolutionäres Geschäftsmodell

Die vermehrte Nutzung digitaler Self-Services durch die Kunden, der gestiegene Wettbewerbsdruck und der auslaufende Support der genutzten SAP-Lösung erfordern zudem ein revolutionäres Re-Design der Prozess- und Systemarchitektur parallel zur evolutionären Entwicklung der bestehenden Landschaft.

Der revolutionäre Ansatz beruht darauf eine modulare und skalierbare “best in class” IT mit einem flexiblen Betriebsmodell zu entwickeln. Ein radikal standardisiertes Produkt- und Serviceangebot soll die „cost-to-serve“ um bis zu 70% reduzieren. Die virtuelle Organisation unterstützt das Vorhaben. Ein „internes Startup“ wird im August 2018 ausgegliedert, um die Produktentwicklung so schnell und fokussiert wie möglich umzusetzen.

Wir sind Teil eines erfahrenen, interdisziplinären Projektteams (10 Personen) zur Geschäftsmodell- und Produktentwicklung. Hierbei verfolgt das Team die „Lean Start-up“- Prinzipien in Form einer streng kundenorientierten und MVP-getriebenen Umsetzung. Über eine sogenannte User Story Map haben wir stets die gesamte Customer Journey im Blick (Abb. 3).
Abb. 3: User Story Map
Nach lediglich 4 Monaten kann der Marktstart erfolgen und somit sehr früh, echtes Kundenfeedback in die Weiterentwicklung einfließen. Nach dem initialen Go-Live organisieren vier agile Teams eigenverantwortlich Vertrieb, Kundenservice sowie die Weiterentwicklung und den Betrieb von Prozessen und IT-Plattformen entlang der Customer Journey.

100.000 Kunden in 12 Monaten

12 Monate später sind bereits 100.000 Kunden erfolgreich unter Vertrag genommen. Zudem identifizieren sich hochmotivierte Mitarbeiter mit dem Geschäftsmodell und handeln selbstorganisiert und unternehmerisch – gestützt durch flache Hierarchien.
Unsere Erfahrungen zeigen, dass eine nachhaltige Transformation kleine Schritte, stetiges Reflektieren und Anpassen erfordert und stets auf klar definierte Business-Ziele einzahlen muss, um erfolgreich zu sein.

Flexibilitäten

Herausforderungen und Chancen für Energieversorger im Kontext des Smart Meter Rollouts

Harmonisierung von SAP-Landschaften: Der Weg zu S/4 HANA Einführung im Rahmen der Fusion

Um ein derartiges Mammutprojekt nach Zielvorgaben umzusetzen, bedarf es eines starken Teams sowie Leadership und Expertise.

Remote Work im Lockdown

Wir haben die letzten Monate Revue passieren lassen und zusammengetragen, was uns hierbei geholfen hat

Warum Scrum und Kanban in keinem Widerspruch zueinander stehen?

Es ist nicht unbedingt notwendig bereits am Anfang einer agilen Organisationstransformation die Wahl für die eine oder andere Option zu treffen.

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